Nach fast hundertjährigem Verbot wird im Val-de-Travers wieder ganz
legal Absinth gebrannt. Späte Genugtuung für eine regionale Spezialität oder Tod einer Legende?
:Die Todesanzeige erschien nur in der Lokalzeitung. Die Liebhaber der
wahren Tradition, die Freunde der Träume und der Feen, die Hüter der wahren Moral des Val-de-Travers, die
Gegner schnöder Spekulationen
und fader Kopien gaben darin den Tod von Madame Blanche Laverte, geborene Absinth, bekannt. Die alte
Dame, die während Jahrzehnten sehr zurückgezogen gelebt und nur noch ihre engsten Freunde empfangen
habe, sei am 6. Dezember an den Folgen der Gewinnsucht gestorben. :Denn seit dem 6. Dezember darf
Yves Kübler, Nachkomme
einer alten Schnapsbrennerfamilie aus Motiers, mit dem offiziellen Segen des Kantons Neuenburg, seinen
'extrait d'absinthe' herstellen.
Ein paar Tausend Liter des nach traditionellem Rezept aus verschiedenen Kräutern hergestellten Getränkes
sind zwei Wochen später bis auf den letzten Tropfen verkauft. Besonders gross ist die Nachfrage in der
Deutschschweiz. Bei einem Besuch in Küblers Büro läutet ständig das Telefon: Wo ist der neue Absinth
erhältlich?
Wann kommt endlich die nächste Lieferung? - Kübler verbirgt seinen
Stolz nicht: 'Geschmack und Farbe unseres Produktes entsprechen der
grünen Fee.' :Doch streng nach Gesetz handelt es sich bei diesem
neuen Aperitif nicht um Absinth, wie der Kantonschemiker Marc Treboux ausführt: 'Es enthält kaum
nachweisbare Spuren der psychoaktiven
Substanz Thujon und nur 45 Prozent Alkohol.' Somit fällt es nicht unter das Absinthverbot, das seit der
Revision der Bundesverfassung 1999 einzig im Lebensmittelgesetz übrig geblieben ist. Interessant ist,
dass gemäss Treboux auch im schwarz gebrannten Absinth keine höheren Thujonwerte zu finden seien,
was damit zusammenhänge, dass heute meist nur noch getrocknete Kräuter verwendet würden. Illegal
bleibt also selbst bei der 'clandestine' einzig der hohe Alkohogehalt (über 50 Prozent) - und die Tatsache,
dass nicht bewilligte
Destillierapparate verwendet werden. :Merkwürdiger Geschmack
:Nicolas Giger, der jedes Jahr im Juni im benachbarten Boveresse eine
'fete de l'absinthe' organisiert, kommt auch ohne chemische Analyse zum Schluss, dass Küblers neustes
Produkt mit Absinth nicht viel zu tun habe: 'Es hat einen merkwürdigen Beigeschmack, ein bisschen, wie
wenn man sich eine Tauchermaske übers Gesicht zieht.' Noch entschiedener fällt das Urteil von Pierre-
Andre Delachaux aus,
passionierter Absinthforscher und Konservator des Regionalmuseums in Motiers: 'C'est de la merde.' Der
Verfasser mehrerer historischer
Studien über die sagenumwobene 'fee verte', ihrer Farbe beim Zugiessen von Wasser wegen auch 'la bleue'
oder 'le petit lait' genannt, ist auf Kübler schlecht zu sprechen: 'Er hat seine Seele
verkauft. Hat mit seinem im Supermarkt erhältlichen Allerweltsgebräu den Absinth ein zweites Mal
ermordet.'
:Denn für Delachaux ist heute erwiesen, dass das Absinthverbot von
1910 das Resultat eines politischen Komplottes war. Weinbauern und Schnapsbrenner wollten sich der
populären und preiswerten Konkurrenz entledigen. Unterstützt wurden sie vom Blauen Kreuz und allerlei
Moralaposteln, die im legendären Getränk der Pariser Boheme eine Gefahr für die öffentliche Ordnung
sahen. Als Beweis galt nicht zuletzt, dass immer mehr Damen auf den Geschmack kamen, im Wirtshaus
'der blauen Stunde' zu frönen, statt sich sittsam um ihren Haushalt zu kümmern. Um die Öffentlichkeit zu
überzeugen, wurde ein Familiendrama im Waadtland instrumentalisiert, wo ein Mann im Vollrausch Frau
und Kinder umbrachte. Die Gräueltat wurde dem 'verrückt machenden' Absinth angelastet, obwohl der
Mann ein notorischer Weissweintrinker war. Wie schädlich das im Grossen Wermutkraut vorhandene
halluzinogene Thujon wirklich ist, wurde nicht seriös untersucht. :Bedrohte Rezepte
:Durch das Verbot verlor das Val-deTravers, wo zu Beginn des
Jahrhunderts fünfzehn Destillerien Absinth brannten und in alle Welt verkauften, auf einen Schlag 300
Arbeitsplätze. Damals erschien die erste Todesanzeige von Madame Blanche Laverte. Und gleichzeitig
wurde beschlossen, im Geheimen weiterzumachen. Heute wird die Anzahl der Schwarzbrenner auf
ungefähr 80 geschätzt. Für Delachaux sind sie 'Widerstandskämpfer', von denen ein jeder ein sorgfältig
überliefertes Rezept mit bis zu 15 verschiedenen Kräutern hüte.
Diesen kulturellen Reichtum sieht er durch das ohne Anstrengung erhältliche neue Produkt in Gefahr:
'Bisher musste man sich den
Absinth verdienen. Musste wissen, wo und bei wem anklopfen. Konnte ihn nicht trinken, ohne an seiner
Legende weiterzuspinnen.' : Nicolas
Giger jedoch kann dem 'koffeinfreien Absinth' auch eine gute Seite abgewinnen. Seit diesem Jahr ist in der
EU Absinth mit begrenztem Thujonwert - da streng genommen von Gesetzes wegen kein Absinth -
wieder zugelassen. Noch im. Dezember sollte im nahen Pontarlier ein solches Produkt auf den Markt
kommen: 'Da ist es doch besser, jemand
hier aus dem Tal, wo der wahre Absinth herkommt, sei ihnen zuvorgekommen', sagt Giger. Auch der
Neuenburger Kantonschemiker Marc Treboux argumentiert in die gleiche Richtung: 'Wir haben das Gesetz
liberal interpretiert. Denn das entspricht dem Willen des Bundesrates, unsere Gesetzgebung im Bereich
der Lebensmittel europakompatibel zu machen.' : Selbst die Aufhebung des noch
bestehenden Verbotes scheint seit dem 6. Dezember nicht mehr unmöglich - sie würde es erlauben, den
wahren, über 50-prozentigen
Absinth durch eine 'appellation d'origine contrölee' zu schützen.
Delachaux kann auch dieser Aussicht nichts Positives abgewinnen:
'Höchstens zwei, drei Absinthbrenner bekämen vom Bund eine Konzession. Die übrigen wären zum
Untergang verdammt, der stille Widerstand einer ganzen Region wäre gebrochen.' Yves Kübler hat für
solche Argumente nur Spott übrig: 'Es gibt einfach Leute, die
leben in der Vergangenheit und verkennen die wirtschaftliche Realität.'